Jordan

Jordan, du großer Kleiner, bist der Fluss in das gelobte Land, die Grenze zwischen Leben und Tod. Ich habe dich mächtiger erwartet, königsblau, nilgrün oder seidig türkis wie deine großen Brüder und Schwestern. Unter den ikonischen Flüssen der Welt, zu denen du ohne Zweifel gehörst, bist du der Eintritt ins Himmelstor, schenkst Erlösung von den irdischen Mühen, verbindest Elemente, die unterschiedlicher nicht sein könnten - der Menschen Weg und Wanderung und das Heil, das grenzenlose, das überschäumende. Das ewige.

 

Wie eine Majestät musst du da erscheinen, auch wenn du nicht ganz so lang bist wie der Ganges mit seinen 2600 Kilometern. Wie der Nil, der nach der Vereinigung von blau und weiß noch eine Wüste grün macht. Wie der Amazonas, der einen ganzen Kontinent durchquert von West nach Ost. 250 Kilometer misst du nämlich nur, vom Zusammentreffen deiner Quellen im Antilibanon bis zur Mündung im Toten Salzmeer.

 

Und selbst das ist nicht sicher, könnte maßlos übertrieben sein, denn aus der Luft bist du nur halb so lang. Gerade einmal 105 Kilometer lang ist die Luftlinie zwischen dem See Genezareth und dem Totem Meer, obwohl dir – wegen der vielen Windungen – auf dieser Teilstrecke doppelt so viele angedichtet werden. Die so kühl rechnen und messen, können es doch nicht wissen. Denn sie sind nicht vor Ort, sie haben deine Länge nicht abgeschritten. Sie können nur fotografieren aus dem All und Vermutungen anstellen.

 

Mit Kraft tosend und gurgelnd hatte ich dich erwartet, bewacht von einer Königsgarde hoher schlanker Bäume. Aber wo bist du überhaupt? Wo sind deine Leibwächter zum Himmelstor, die Stämme tief verwurzelt und kerzengerade. Was haben die Menschen aus dir gemacht?

 

Ein Rinnsal, ein schlammgrünes, erkenne ich zwischen niedrigem Gesträuch, eine Abwasserrinne, in der die Täuflinge baden, die über den Atlantik angereist kamen mit Bible Tours, ausgestattet mit allerhand Firlefanz, um das Ereignis größer zu machen. Ein weißes T-Shirt haben sie übergezogen, tasten sich vorsichtig die glitschigen Stufen hinab, schwer zu Fuß und mit hängenden Bäuchen, in die heilbringende Rinne, deren Wasser abgezapft wird von zwei Seiten. An den Ufern, hart und sandig, ziehen die Anwohner rechts und links Avocados und Orangen. Sie trinken dein Wasser, sie spülen es im Klo runter und führen darüber Kriege.


Stephanie von Aretin

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