Der Tag, an dem Kidist verschwand

Während die offizielle Politik in Äthiopien Frauen fördert, stoßen diese in ihrem Umfeld immer wieder an Grenzen, die sie oft tragisch scheitern lassen. Drei gut ausgebildete Frauen erzählen aus ihrem beruflichen und familiären Alltag.

Von Stephanie von Aretin

 Leipzig/Addis Abeba. Sieben Tage lang hatte die äthiopische Delegation in Leipzig Höhenrettungen geprobt, die Wartung von Atemschutzmasken geübt, diskutiert und gescherzt. Am Montag danach, im März 2019, traf eine unerwartete Email im Rathaus ein: Kidist ist nicht mitgeflogen, verschwunden irgendwo auf dem Weg zwischen Leipziger Hauptbahnhof und Flughafen Frankfurt. Die Gruppe sei schockiert und verurteile ihr Verhalten aufs Schärfste, schrieb Abraham Asrat, Delegationsleiter aus der Hauptstadt Addis Abeba. Im Nachhinein mehrten sich die Hinweise – Kidist Gebreyes Genebo, Feuerwehrfrau aus Addis Abeba, Leiterin einer der acht Brandschutz-Bereiche in der Fünf-Millionen-Stadt, offen, erfolgreich, gut situiert, hatte die Flucht geplant. Bis heute ist sie verschwunden.

 

Äthiopien verbinden viele immer noch mit der Hungerkatastrophe der 1980er Jahre. Das bitterarme Land mit Grenzen zu Sudan, Eritrea, Somalia und Kenia belegt auf dem Human Development Index 2018 Platz 173 von 189. Doch in der Gender-Politik erlebt der 105-Millionen-Staat im Osten Afrikas fast unbemerkt eine Revolution, die weltweit ihresgleichen sucht. Auf Regierungsebene organisiert Äthiopien eine Gleichberechtigung, von der Europäer nur träumen können. Die Hälfte des Kabinetts ist weiblich besetzt, seit Hoffnungsträger Abiy Achmed 2018 an die Macht kam. Auch Präsidentin Sahle-Work Zewde und die Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, Meaza Ashenafi sind Frauen. Mit dieser Frauen-Power steht Äthiopien allein auf weiter Flur.

 

Die Modernisierungsbestrebungen von oben treffen auf eine zutiefst patriarchalisch geprägte Gesellschaft. Der Frau an der Spitze des Staates stehen 40 Prozent der Mädchen gegenüber, die unter 18 verheiratet werden. Die oberste Richterin kämpft gegen ein Gewohnheitsrecht, das Gewalt gegenüber Frauen in vielen Fällen toleriert. Und selbst gut ausgebildete, selbstbewusste Frauen sehen sich tagtäglich verletzenden Übergriffen ausgesetzt. Auf mehreren Recherchereisen in Äthiopien interviewte ich Äthiopierinnen mit guter Ausbildung und beruflicher Karriere. Frauen, die mitten in einer tabubesetzten Gesellschaft, Männern Paroli bieten. Doch erst an dem Tag, an dem Kidist verschwand, wurde mir die Tragweite dieser Zerrissenheit bewusst. Wie rote Fäden legten die Interviews mit einem Mal Spuren zu einer Entscheidung, die für sich betrachtet ungeheuerlich wirkte.

 

Kidist Gebreyes Genebo war nicht nur die einzige Frau unter den Bereichsleitern der städtischen Feuerwehr in Addis Abeba. Sie war auch die einzige Frau, die Anfang 2019 ausgewählt wurde, die hochrangige Delegation in die Partnerstadt Leipzig zu begleiten. Von Anfang an beobachtete ich sie: Wie sie sich in der Vorstellungsrunde am ersten Tag präsentierte – die Haare zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammengebunden, ohne Make-Up, zurückhaltend, doch mit Autorität, wenn sie sprach. Die Lage der Frauen in Äthiopien, ihr eigener Werdegang – sie hielt unser Gespräch kurz, als ich sie in einer Pause interviewte. Das Essen wartete.

 

„Frauen bei der Feuerwehr sind nichts Ungewöhnliches“, sagte sie. „An vielen Stellen gibt es Frauen, auch in der Brandbekämpfung. Aber nur ich leite einen ganzen Bereich. Dafür braucht man Zeit und Erfahrung. Um ehrlich zu sein, so eine Stelle bekommt man nicht von heute auf morgen.“

 

Kidist hatte Buchhaltung studiert und es dann nach einer Grundausbildung und mehreren Fortbildungen geschafft, die Abteilung für Prävention zu übernehmen.

 

„Ich habe nur meinen Job getan. Ich arbeite leidenschaftlich gern und mit dem ganzen Herzen. Ich bin seit fünf Jahren in dieser Position. Meine Kommunikation ist rein arbeitsbezogen, immer nach Vorschrift. Ich habe weder engen Kontakt noch übertriebene Distanz zu den Mitarbeitern. Und wenn sie eine Beschwerde haben, höre ich genau zu und versuche ihre Probleme zu lösen.“

 

Bescheiden formulierte sie fast jede Antwort, nur einmal wurde sie emotional. Das war bei der Frage, ob sie Frauen besonders fördere.

 

„Aber wie! Ich gebe ihnen Rat, damit sie nie von ihren Ideen und ihrer Karriere zurücktreten. Ich gebe ihnen Mut, damit sie ihren Job vorbildlich erledigen, korrekt sind. Ich sage ihnen: Es gibt nichts Unmögliches, alles ist möglich. Diese Einstellung sollen sie im Kopf haben, das will ich ihnen vermitteln. Wenn ein Team gegründet wird, sind Frauen oft besser in der Lage, diese Gruppe zu führen und den Sachverhalt genau aufzuklären.“

 

Fünf Tage nach dem Interview war Kidist weg. Bis heute sind die Umstände ungeklärt. Alle Erklärungsversuche müssen vor diesem Hintergrund spekulativ bleiben. Doch auch andere Frauen in gehobenen Positionen offenbaren eine tiefe innere Zerrissenheit.

 

So nannte sich Mars Émma Tariku in unserem Interview Anfang 2019 „eine der glücklichsten Frauen in Äthiopien.“

 

„ Ich wurde in eine Familie geboren, die sehr an Bildung glaubte. Mein Vater sagte meiner Schwester und mir in einem durch: Ich will, dass ihr einem Mann gerade in die Augen schaut. Lasst ihn nie auf euch herunterschauen. Bildung ist alles, was ich euch mitgeben kann, also arbeitet hart. Und meine Mutter, die selbst nie studiert hat und es immer bereute, wollte ebenfalls, dass ihre Mädchen eine Ausbildung bekämen.“

 

Mehr und mehr erkannte die Anfang 40jährige Inhaberin eines Übersetzungsbüros bei ihrem Vater jedoch Verhaltensmuster, die typisch sind. „Viele Männer in Äthiopien machen einen Unterschied zwischen ihren Ehefrauen und Töchtern. Sogar mein Vater, der in London studierte, zog es in Äthiopien vor, mit einer Hausfrau zusammenzuleben. Er hätte ihr bei ihrer Ausbildung helfen können, sie wollte immer auswärts arbeiten. Doch das hat er nie erlaubt. Warum er uns zur Unabhängigkeit trieb, sie aber in Abhängigkeit hielt, auf diese Frage habe ich nie eine Antwort gefunden.“

 

Anders als die in der Hauptstadt aufwachsende Mars Émma stammt Mulu Atsbha aus der ländlichen Gegend in der Nähe der Stadt Bahir Dar. Ihr Vater und Großvater waren kleine Händler und Tischler. Sie selbst wuchs als Älteste von sieben Geschwistern auf und begann 1982 ein Pädagogikstudium im technischen Zeichnen an der Universität Addis Abeba. Obwohl das Lehramt ein typischer Beruf für Frauen war, lehrte zu dieser Zeit nur eine Professorin an der Fakultät. Dr. Genet Zewdie war zudem ab 1991 erste weibliche Ministerin des Landes und später zehn Jahre lang Botschafterin in Indien. Mulu, inzwischen Dekanin am Entoto Polytechnical College, und damit eine von zwei Frauen auf dieser Leitungsebene in Addis Abeba, erzählt:

 

„Dr. Genet war für mich ein Vorbild. Unter all den männlichen Lehrern leuchtete sie wie ein Diamant. Was ich am meisten an ihr mochte, war, dass sie Frauen nach vorne brachte. Sie gab uns Vorrang und teilte gerne ihre Erfahrungen mit uns. Sie war eben eine echte Lehrerin und mutig.“

 

Sowohl Mars Émma als auch Mulu erlebten die Universität als Männerdomänen. Laut einem BBC-Bericht vom November 2018 besuchen weniger als 20 Prozent der Mädchen eine höhere Ausbildung.[1] Mars Émma erinnerte ihr Studium so:

 

„Als ich an der Addis Abeba Universität anfing, spürte ich plötzlich überall, dass Frauen sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten hatten. Du durftest keine kurzen Hosen anziehen, du durftest andere nicht rhetorisch übertrumpfen. Es gibt so viele Gepflogenheiten, die man als äthiopische Frau respektieren, so viele Ideen, vor denen man sich in Acht nehmen muss. Dabei würde ich viel lieber darüber sprechen, was wir alles tun können.

 

Zu dieser Zeit kam ich damit in Konflikt, was es wirklich bedeutet, eine Frau in Äthiopien zu sein. Ich begann mich dagegen zu wehren und wurde eine der besten Studentinnen an der Addis Abeba Universität. Ich war nicht mehr nur die Lady, die auch dabei war, sondern die Lady, die hart arbeiten konnte. Das hat mir eine Art Respekt eingebracht.“

 

Auch Mulu qualifizierte sich in nur drei Jahren für das Lehramt. Mit 19 Jahren begann sie ihre Laufbahn an einer Berufsschule in Awassa, knapp 300 Kilometer südlich von Addis Abeba.

 

„Als ich in Awassa anfing, war ich die einzige weibliche Lehrkraft. Damals war es nicht schwierig für mich, nur mit Männern zusammen zu arbeiten. Ich war jung. Allerdings wollten die Männer immer bestimmen und sie erwarteten von mir, dass ich ihnen folgte und nicht die Führung übernahm. Das habe ich nicht akzeptiert. Ich wollte auch führen, oder es zumindest versuchen. Ich habe offen und frei mit meinen Kollegen gesprochen. Und ich war in der Lage, ihnen zu helfen und sie zu unterstützen. Dabei kam mir zugute, dass ich die einzige Lehrkraft war, die Zugang zu Zeichenmaterial hatte. Außerdem hatten die wenigsten von ihnen ihr eigenes Mittagessen dabei. Also habe ich nicht nur mein eigenes Lunch-Paket gekocht, sondern Essen für alle von zu Hause mitgebracht.“

 

Die traditionelle Rolle als Hausfrau und Mutter wird in weiten Teilen Äthiopiens durch bessere Bildungschancen für Mädchen herausgefordert. In den Grundschulen lernen inzwischen ebenso viele Mädchen wie Jungen, in Oberschulen ist das Verhältnis 40:60. Trotzdem bleibt die Gesellschaft zutiefst patriarchalisch. Mehr als 40 Prozent der Mädchen sind verheiratet, bevor sie 18 Jahre werden. Fast die Hälfte der Frauen erfährt Gewalt von ihrem Partner, zitiert die BBC Regierungs- und andere Quellen. Genitalverstümmelung ist bis heute weit verbreitet. Junge Frauen, die bereits im Kindesalter von ihren Familien verheiratet werden, haben später kaum eine Möglichkeit, sich aus traumatischen Ehen zu lösen.

 

Aber die Mauern bekommen Risse. „Wenn wir uns strategisch organisieren, werden wir sie einreißen“, machte Bildungsministerin a.D. Genet Zewdie erst kürzlich in einem Interview Frauen Mut. Strategische Unterstützung kommt zum Beispiel von der Deutschen Gesellschaft für Zusammenarbeit (GIZ), die kleine Wohnungen baut, in denen berufstätige Frauen erstmals ohne Familie leben können.

 

In den familiären Beziehungen hebt sich die gläserne Decke nur langsam. „Bis heute“, sagte Mars Émma, „werden Frauen nur so lange respektiert wie sie einen Mann haben. Das hat sich nicht geändert, das ist immer noch Realität. Daher stehen Frauen konstant unter Druck, zu heiraten, Kinder zu haben, eine gute Hausfrau zu sein, zu kochen. Mein Bruder ist erst 14 Jahre alt und wird auf der Straße höflicher behandelt als ich.“

 

Auch Mulu berichtete von Übergriffen auf der Straße und im Beruf.

 

„Als ich in Awassa mit dem Fahrrad fuhr, wurde ich beleidigt. Warum fährst du mit dem Fahrrad, wenn du eine Frau bist?, riefen die Männer.

 

Je erfolgreicher ich im Beruf war, desto einsamer wurde ich. Viele Männer sind neidisch auf die Stärke, die wir durch die Geburt unserer Kinder, durch unsere frühe Mutterschaft bekommen. Als ich zu einer Bundeskonferenz der Regionen abgeordnet wurde, litt ich sehr. Ich verbrachte nicht nur die Abende allein, sondern eigentlich auch den Großteil des Tages.“

 

Es sei an der Zeit, dass ehrliche, verbindliche und loyale Frauen das Bildungssystem verwalten, sagte Mulu. In der Politik, fürchtete sie, sei Professionalität kein Auswahlkriterium. Da würden Posten durch Kontakte und ethnische Zugehörigkeit vergeben. Auch Mars Émma sah die Gender-Politik auf Regierungsebene skeptisch. „Frauen werden nicht ermächtigt, wenn sie in Positionen gehoben werden, die sich nicht ausfüllen können. Was immer wir tun, wir müssen es mit den Männern tun und in der Konkurrenz bestehen.“

 

Die Gesprächspartnerinnen in diesem Beitrag haben unterschiedliche Strategien gefunden, sich trotz eklatanter Konflikte in Beruf und Familie zurecht zu finden. Mulu ist müde geworden, sie möchte für eine internationale Organisation arbeiten. Mars Émma geht als selbständige Unternehmerin ihren Weg, ohne sich zu beugen. Nur Kidist ist verschwunden.

 

[1] https://www.bbc.com/news/world-africa-46110608

erschienen in Welttrends - Das außenpolitische Journal, Heft 157, November 2019